Für meinen Vater, gestorben am 01. Oktober 2013
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
.
Rainer Maria Rilke
„Intensiv…“
…ist es hier auf dieser Station. Im Eingangsbereich sieht es aus wie im Cockpit von Raumschiff Enterprise, überall Überwachungsmonitore im Blicke der in blauen Raumanzügen gehüllten Pfleger.
Es ist nicht so ruhig wie auf der Krebsstation meines Bruders. Überall piepen und klingeln die Geräte. An den Decken hängen Leuchttafeln mit den Patientennummern, deren Daten sich in offensichtlich kritischen Bereichen befinden. Mein Vater hat die Nummer B0 15.
Ich betrachte die Werte seines geschundenen Körpers, die Herzfrequenz, den Blutdruck, die Körpertemperatur. Die anderen Kurven und Zahlen verstehe ich nicht, muss ich auch nicht. Entscheidend ist, dass eine Berührung seiner Hände oder seiner Stirn die Werte irgendwie beeinflussen, sichtbar.
Er hat kein Bewusstsein mehr, könnte man meinen. Oh doch, er ist da.
Wir sitzen den ganzen Tag an seinem Bett, ich höre seinen schweren Atem. Schmerzen hat er keine, da vertraue ich den Ärzten. Er zeigt
keinerlei Regung, die Augen bleiben verschlossen. Nur wenn die Pfleger nach ihm schauen, öffnen sie ihm sanft die Lider und durchleuchten seine grau blassen Pupillen. Vielleicht sehen seine Augen durch uns hindurch in das Licht des Jenseits.
Im Bett neben meinem Vater liegt ein älterer Mann, ich schätze ihn auf Ende Sechzig. Er ist aus dem Koma erwacht und quält sich in unsagbaren Schmerzen, reißt sich ständig die Schläuche vom Leib. Dann kommen die Pfleger und beruhigen ihn, geben ihm wieder Methanyl. Er leidet unter Morphium-Entzug. Sein Stöhnen und Röcheln ist schier unerträglich.
Mein Vater hingegen ist ganz ruhig. Was für ein Segen. Friedlich ist sein Anblick nicht. Der geöffnete Mund lässt ihn flehentlich
erscheinen.
Papa war ein großer Geschichtenerzähler. Seine letzte erzählte er mir vorgestern Abend, wir tranken unser letztes gemeinsames Glas Rotwein. Die von einem kleinen Affen, der wäre aus dem Zoo ausgebügst und hätte den ganzen Tag am Straßenrand gesessen, um interessiert den Verkehr zu beobachten. Großes Chaos habe er angerichtet, nur dadurch,dass er da hockte. Ich fragte ihn, ob man das Äffchen wieder eingefangen hätte. „Oh Nein!“ sagte er, in unserem Garten hielte er sich jetzt versteckt.
Was für ein wunderbarer Unterschlupf für den kleinen Chaos-Affen, der Garten meines Vaters.
„Guten Nacht Jung’…“ waren seine letzen Worte an mich.
Und die an meine Mutter waren ein Liebesgeständnis, als sie sich beide ins Bett legten.
Immer kindlicher wurde er in den letzen Wochen. Er hörte auf zu Lesen, schreiben konnte er schon seit längerem nicht mehr. Stundenlang saß er auf dem Balkon und beobachtete die Wolken. Er war in Kriegszeiten Schäfer und vermochte es, das Wetter zu prognostizieren. In aller Regel sehr treffsicher. Er hat mich aber nie in die Geheimnisse seiner Wolkenbeobachtungen eingeweiht.
Gottgläubig war er, zutiefst und kindlich. Hunderte von Gebeten und Meditationen schrieb er in seinen letzten Jahren, hielt wöchentliche Friedensgebets-Treffen in der Kapelle ab. Manchmal hatte ich den Eindruck, er betete fast verzweifelt.
Ich selber habe ihn nie begleitet in seine Kapelle, mir erschien dies alles irgendwie bigott.
Wie mag es mir jetzt erscheinen, wenn ich seine Worte wieder lesen werde, seine Gebete und Meditationen. Oder seine Lebenserinnerungen, die er über seine Kindheit, Schüler- und Studienzeit niederschrieb und damit in diversen Leserkreisen für Furore sorgte.
Darum drehten sich seine Gedanken und immer währenden Erzählungen. Die eines schmächtigen kleinen Jungen in den Anfängen des Krieges als Jüngster von 9 weiteren Geschwistern. Drei von ihnen verstarben im Kindesalter, sein geliebter großer Bruder blieb im Krieg verschollen. Die Eltern verstarben an ihrem Kummer.
Er war letztlich der Intellektuelle, studierte als Einziger mit Bravour und lehnte eine Universitätslaufbahn ab, dafür war er zu
bescheiden. Seine Professoren bewunderten ihn, seine Abschlussarbeitüber Kafka ist bis heute eine „Legende“. Ich habe sie jedoch nie
gelesen.
Ja, er war bis zum Schluss ein sehr ängstlicher Mensch, nie der starke Vater. Immer nur auf unser Wohl bedacht, voller Sorge, jegliches
Risiko ablehnend.
Aber als Lehrer gefürchtet und zugleich geliebt. Aus den Erzählungen seiner Schüler erkannte ich nie meinen Vater, es erschien mir gerade so, als redeten sie von jemand anderem.
Das war seine eigentliche Berufung, und doch blieb er mir auch hier immer geheimnisvoll. Er wollte nicht, dass ich sein Schüler wurde. Und er behandelte mich nie als den seinen, auch wenn ich mir das oft gewünscht hatte.
Er ließ mich ziehen, verjagte mir meine jugendlichen Flausen nicht, belehrte mich nie über meine durchschnittlichen schulischen
Leistungen, gab mir nur wenig Ratschläge in meiner Suche und auf meinem merkwürdigen Lebensweg. Trug all meine Eskapaden ohne Kritik.
Ganz im Gegensatz zu meinen Geschwistern, die er mit strenger Hand erzog.
Wie sehr hatte ich mir doch einen starken Vater gewünscht, doch das war er nie für mich. So glaubte ich es immer in meinen Lebenskrisen, und ich machte ihn mit dafür verantwortlich.
In Wahrheit aber gab er mir schlichtweg seine Liebe und das größte, was man seinem Kind entgegen bringen kann:
seinen tiefen Glauben an mich, und sein bedingungsloses Vertrauen. Und so war ich sein Vertrauter in seinen Lebenskrisen.
Weil er sich in mir sah. Er bewunderte mich.
Und ich bewunderte ihn. Meinen geheimnisvollen Papa…
…
Es wird jetzt Zeit, mein geliebter Papa. Morgen komme ich wieder und setze mich neben dich. Damit du keine Angst haben brauchst. Warum solltest du dich fürchten vor all den Wundern, die dich erwarten werden..
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